Während Konzertsäle geschlossen haben und das kulturelle Leben kaum stattfinden kann, treten Musiker in der Petrikirche auf. Möglich ist dies, da das Konzert kurzerhand zu einer „Andacht“ wurde. Mit Nächstenliebe hat das wenig zu tun.
Ein Kommentar von VaterstettenFM-Chefredakteur Leon Öttl
„Du sollst nicht töten“ heißt es in den zehn Geboten. Darauf nimmt das Corona-Virus keine Rücksicht. Aus gutem Grunde gelten strikte Auflagen. Über die Verhältnismäßigkeit einzelner Maßnahme kann man streiten, doch jeder normal denkenden Person sollte klar sein, wie ernst die Lage ist.
Stand heute hat der Landkreis eine Inzidenz von 214,4. Wir sind ein Hotspot. Seit April studiere ich ausschließlich im Home Office. Durch die Auflagen ist es mir nicht möglich, Bücher für meine bald fälligen Seminararbeiten abzuholen, da seit kurzem auch die wissenschaftlichen Bibliotheken geschlossen haben. Das alles ist ärgerlich, doch angesichts des Infektionsgeschehens absolut nachvollziehbar und für mich auch selbstverständlich. Und irgendwann ist auch diese Krise überstanden – hoffentlich so glimpflich wie möglich. Dazu kann unsere Rücksichtnahme beitragen.
Nicht schlecht staunte ich, als ein Freund mir gestern einen Social-Media-Beitrag schickte. Findet da morgen doch tatsächlich ein Konzert in der Petrikirche statt? Eine erste Recherche bestätigte das. Auf einer Website des evangelischen Presseverbandes ist von einenem Weihnachtskonzert die Rede. Das selbe Ergebnis bringt die Recherche auf der Website von „Quadro Nuevo“. Dort findet sich ein Hinweis auf ein „Weihnachtskonzert im Rahmen des Gottesdienstes“. Daneben ein Link, der auf den Ticketkauf verweist.
Andacht oder Konzert? Was denn nun? Ein interessierter Bürger wandte sich an das Pfarramt. Die Mails liegen VaterstettenFM vor. „Aufgrund der aktuellen Lage“ fände das Konzert „leider nur um 18 Uhr im Rahmen einer Andacht“ statt. Eine weitere Mail vom Mittag stellt klar: „mit Anmeldung und Eintritt“. Ein Gottesdienst mit Eintritt? Auch, wenn man jetzt „mausgerutscht“ ist, die Mail liest sich zumindest nicht wie ein Versehen.
Die Religionsfreiheit ist ein wichtiges Gut. Religion bietet – insbesondere in dieser schwierigen Zeit Halt. Daher ist es aus meiner Sicht in Ordnung, dass Gottesdienste stattfinden dürfen, unter der Einhaltung strenger Maßnahmen. Ein weiteres von der Verfassung geschütztes Grundrecht ist die Meinungsfreiheit. Gegenüber den Kollegen der Ebersberger Zeitung behauptet der Pfarrer Stephan Opitz, dass jeder, der die Veranstaltung kritisiere, „schnell ganz ruhig werden“ solle. Ein seltsames Verständnis von Grundrechten – Sonderrechte für die Kirche ja, einen Diskurs darüber aber nicht. Beschämend!
Zu Gute halten muss man der Kirchengemeinde das Hygienekonzept. Lediglich eine geringe Zahl an Besuchern war zugelassen, mit großem Abstand. Eine Infektion daher unwahrscheinlich. Doch auch das haben wir im Laufe der Krise gelernt: Eine Maske schützt – aber eben nicht vollständig. Auch unter Einhaltung der strengsten Abstandsregeln kann eine Infektion auftreten. Es war sicher nicht die Intention der Kirche, eine Superspreader-Veranstaltung zu organisieren. Recht haben und Recht bekommen sind aber zwei verschiedene Dinge – was rechtlich zulässig sein kann, kann dennoch unsolidarisch sein und widerspricht dem, was ich zu Schulzeiten über Nächstenliebe im Religionsunterricht gelernt habe.
Die Kirchen haben eine Vorbildfunktion für die Gesellschaft. Mit einer Vorbildfunktion geht auch Verantwortung einher. Schüler werden nach Hause geschickt. Die VHS muss – trotz Corona-Konzept – schließen. Bibliotheken haben geschlossen. Gastronomen und Künstler bangen um ihre Existenz. Und die Kirche? Die macht ein Konzert zu einer Andacht. Zwar könne man sich das Eintrittsgeld erstatten lassen und das Geld geht an die Künstler. Das klingt allerdings nach einer Ausrede.
Abhilfe hätte die Petrigemeinde frühzeitig schaffen können: Gegen eine Andacht – gegebenenfalls als hybride Veranstaltung mit Livestream – wäre nichts einzuwenden gewesen. Darin hätte man auch zu Spenden für die Künstlerinnen und Künstler aufrufen können. Stattdessen noch wenige Stunden vor dem „Konzert“ auf ein Eintrittsgeld zu verweisen – sei es beabsichtigt gewesen oder nicht – ist moralisch verwerflich. Dazu kommt, dass sich Querdenker wohl bestätigt fühlen – und ehrlich gesagt kann ich das ein bisschen nachvollziehen.
Die Mitgliederzahlen der Kirchen sinken. Mit der heutigen „Andacht“ und Ihrer Aussage, Kritiker sollen schweigen, haben Sie einen weiteren Beitrag dazu geleistet, Herr Opitz! Ein Hauch Kritikfähigkeit täte dem Image der Kirche sicherlich gut.